Hilfe in der Not - Das Böblinger „Winterhilfswerk“

Der Winter brachte nicht nur Freuden - Straßenszene auf dem Elbenplatz

Im April 1949 bekam der neue Böblinger Bürgermeister Wolfgang Brumme von einem seiner Amtsvorgänger, nämlich Georg Kraut, der jetzt im Konstanzer Teilort Wollmatingen wohnte, Berichte über verschiedene historische Ereignisse zugeschickt, die sich in Krauts Amtszeit (1919 bis 1938) ereignet hatten. Der Böblinger Gemeinderat Gottlob Baisch hatte wohl diesen Kontakt vermittelt und die handschriftlichen Texte Krauts auf der Schreibmaschine abgetippt. Die Berichte sollten dem jungen Bürgermeister helfen, seine Stadt und ihre Besonderheiten besser zu verstehen. Die Dokumente liegen heute im Stadtarchiv.

Unter diesen Unterlagen befindet sich auch ein Bericht über ein „örtliches Hilfswerk“, das im Text auch „Winterhilfswerk“ genannt wird. Die Berichte sind natürlich nicht frei von Subjektivität, doch die genannten Fakten dürften alle der Wahrheit entsprechen. Damit vermitteln die Dokumente einen guten Einblick in die jüngere Vergangenheit Böblingens.

Die wirtschaftliche Not weicht nicht

Lyon Sussmann an seinem 85. Geburtstag im Jahr 1928

In einem früheren "EinBlick in die Stadtgeschichte" wurde die Geschichte des Böblinger Notgelds beschrieben. Nicht zuletzt dank dieses Notgelds war die Böblinger Wirtschaft Anfang der 1920er Jahre vor dem vollständigen Zusammenbruch bewahrt worden. Im November 1923 war dann die Inflation besiegt, doch die wirtschaftliche Not wich nicht so schnell.

Der Jahresbericht von 1923 zeigt, dass trotz aller beginnenden Verbesserungen die wirtschaftliche Lage nicht gut war. Zwar scheint die Anzahl von 150 Vollerwerbslosen bei einer Einwohnerzahl von etwa 7.000 nicht extrem hoch zu sein, doch weil damals Familien oft von nur einem Einkommen leben mussten, waren die Auswirkungen erheblich. Geradezu dramatisch hoch war die Anzahl der Kurzarbeiter, sie betrug nämlich mindestens 1.000. In allen größeren Geschäften, außer bei der Spielzeugfirma Kindler und Briel, mussten die Beschäftigten verkürzt arbeiten. Die Gemeinde versuchte mit Notstandarbeiten dagegen zu steuern und ließ von Erwerbslosen einen Waldweg im Stadtwaldteil Mönchsbrunnen anlegen.

Zur Bekämpfung der allgemeinen Not gab es neben den Notstandsarbeiten verschiedene Arten der Wohlfahrtsunterstützung an Alte, Kranke sowie an nicht oder eingeschränkt Erwerbsfähige. Doch waren diese Hilfen nicht ausreichend und es gab immer wieder Menschen, die durch das Hilfsnetz fielen. Eine besonders kritische Zeit war dabei der Winter. Dann war der Mangel an Kleidung und Heizstoffen ganz besonders spürbar. Im Winter stiegen und steigen auch heute noch üblicherweise die Arbeitslosenzahlen, da z. B. in der Baubranche weniger gearbeitet werden kann.

Bürgerliches Engagement

Bürgermeister Kraut wollte diesen Menschen helfen, zugleich aber nicht die Stadtkasse durch weitere Sozialleistungen belasten. Er baute stattdessen auf bürgerliches Engagement und beriet sich deswegen auch mit dem großen Wohltäter Böblingens, Lyon Sussmann, dem Inhaber der Textilfirma Maier und Compagnie (Hautana). Mit der Unterstützung Sussmanns führte Georg Kraut dann erstmals 1925 eine Geldsammlung bei den Böblinger Unternehmern durch, die etwas über 6.000 Mark einbrachte. Von da an wurde jeden Winter diese Sammlung veranstaltet. Sie brachte jeweils Erträge zwischen 6.000 und 8.000 Mark.

Neben Geld stifteten die Firmen Meier und Compagnie, die Schuhfabrik Wanner, die Strickwarenfabriken Lenz und Compagnie sowie Bögel und die Spielzeugfirma Kindler und Briel große Mengen an Trikotwaren, Wirkwaren und Spielsachen. Diese wurden zu Weihnachten an Kinder und bedürftige alte Leute verteilt. Das Bargeld, das den Sammlungen entstammte, wurde zur Anschaffung von Kohlen, Kartoffeln und auch Kleidungsstücken sowie Schuhen verwendet oder gleich als Bargeld weitergegeben. Damit wurden unter anderem auch die „verschämten Armen“ bedacht, also Menschen, die aus Scham keine Unterstützung beantragt hatten, obwohl sie sie dringend benötigten.

Die Familie Sussmann engagierte sich dabei in besonderer Weise. So veranlasste Leonie Dentz, die in Amsterdam lebende Tochter Lyon Sussmans, den Hilfsverein Niederländische Ambulanz jährlich Waren zu schicken. So kamen dann einmal ein großer Ballen Leinwand und in den Jahren 1929 und 1930 auch noch jeweils hundert Mark Bargeld nach Böblingen. Im Krisenjahr 1931 – im Jahr zuvor gab es 400 Arbeitslose - wurden 1.650 Reichsmark gespendet. Es konnten davon 800 Zentner Kartoffeln, 420 Zentner Briketts, 20 Zentner Mehl und einige Zentner Erbsen gekauft und an bedürftige Familien verteilt werden. Eine Volksküche gab täglich fünfzig Essen aus.

Ein Ruhmesblatt

In den Aufzeichnungen Krauts heißt es, dass die „Böblinger Industrie“ sich durch ihre große Spendenbereitschaft ein „Ruhmesblatt in der Geschichte Böblingens erworben“ hätte. Mit "Hilfswerk" ist übrigens keine bürokratische Einrichtung gemeint, sondern das Handeln selbst, also die Sammlung und Bereitstellung von Mitteln zur Bekämpfung der Not. In der stadtgeschichtlichen Literatur ist daher auch von "Wintersammlung" statt von "Winterhilfswerk" die Rede.

Leider nahm es mit dem Winterhilfswerk letztendlich ein trauriges Ende, denn 1934 wurde es vom Winterhilfswerk der NSDAP „annektiert“, wie sich Kraut ausdrückte. So diente es künftig den Zwecken des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Auch Lyon Sussmann wurden seine guten Taten nicht gelohnt, vereinsamt und isoliert starb er 1935. Seine Familie musste wegen ihrer jüdischen Abstammung Verfolgung erdulden und fliehen. Immerhin: Sein Partner bei der Wintersammlung, Bürgermeister Kraut nahm an der Beerdigung Sussmanns auf dem jüdischen Friedhof in Stuttgart teil, wenn auch nur als Privatmann, wie er betonte.

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