Der Satiriker Friedrich Bernritter

Meist sind es die politischen und die wirtschaftlichen Verhältnisse, die uns die Geschichtsschreibung überliefert hat. Das gesellschaftliche Leben, die Alltagswelt ist schwerer zu erschließen. In Böblingen haben wir dabei von einem Glücksfall zu berichten: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte hier Friedrich Bernritter, der ein „Schreiber und Poet dazu“ war, um es mit dem Titel des jüngst erschienenen Buches von Erich Kläger zu sagen. Der Stellvertreter des Oberamtsschreibers erhob sich über seinen tristen Schreibstubenalltag durch seine Tätigkeit als Schriftsteller.

„Wirtembergische Briefe“ – Bernritters satirisches Hauptwerk

Nach 16 Jahren in Böblingen erschien sein Hauptwerk, die „Wirtembergischen Briefe“ – Satiren, in denen er seiner Zeit und seiner Umgebung den Spiegel vorhielt. Die Verhältnisse sind dabei nicht so  verzerrt, dass man dahinter nicht noch die Zustände erkennen könnte, die er geißeln wollte.
Die Adressaten dieser Briefe gehören allen gesellschaftlichen Schichten an, wenn auch die „kleinen Leute“ eher unterrepräsentiert sind. Auch überschreitet er manchmal den Horizont seines Land- und Amtsstädtchens in Richtung Residenz (Stuttgart); und doch hat er vieles, das er in diesen Briefen aufgegriffen hat, dem Leben entnommen, in dem er hier eingebunden war. Seine Schrift könnte daher mit gutem Recht auch „Böblinger Briefe“ heißen.
Seine Herkunft als Schreiber, die einst eine starke Stellung im öffentlichen Dienst der damaligen Zeit hatten, und seine Tätigkeit beim Oberamt (dem Vorläufer des heutigen Landkreises) haben ihn dabei natürlich auch beschäftigt. Es war die Zeit der „Vetternwirtschaft“, wo ohne „Schmieralien“ und „Vitamin B“ nichts lief. Auch der Ämterschacher war „gang und gebe“.
So empfiehlt ein Oberamtmann (heute Landrat) einem noch jungen Kollegen, dass er beizeiten für die Zukunft seiner Kinder sorgen soll. Dann berichtet er voll Stolz, dass er dies für seine Kinder schon gerichtet habe: „Meine Karolina heiratet den Sohn des Stadtschreibers, dem sein Vater sein Amt abtritt!“

Bernritter war ein kritischer Beobachter seiner Zeit

Er lässt immer wieder erkennen, wo er steht – auf der Seite derer, die diese Verhältnisse überwinden wollen. Dazu gehörte auch ein ausgeprägtes Standesdenken. Als ein Oberforstmeister in ein Landstädtchen(Böblingen?) versetzt wird, beklagt sich seine adlige Frau Gemahlin bei ihrer Mutter, dass sie dort keinen standesgemäßen Umgang habe, nur „bürgerliches Geschmeiße“ vorfinde. Wie die Mutter ihr darauf den Kopf wäscht, ist höchst erfrischend.
Wenn niedere Stände in diesen Briefen vorkommen, dann meist unter besonderen Umständen: Da wendet sich die frühere Magd des Schulmeisters an ihren einstigen Dienstherrn mit der Erinnerung, dass sich ihre schon vermutete Schwangerschaft bestätigt habe und ihre Mutter sie halb tot schlage, um den Vater aus ihr heraus zu prügeln. „Was zwischen uns passiert ist, da Ihr mich diesen Sommer zum Betglockenläuten aufgeweckt habt, und dass ich sonst mit keinem anderen zu tun gehabt habe, ist Euch so gut bekannt, als mir selber.“ Dass diese Magd in ihrem Elend allein gelassen wird, folgt in einer bewegenden Fortsetzung. Immer wieder lässt Bernritter erkennen, dass er sich eine enorme literarische Bildung angeeignet hatte (deutsche und ausländische Autoren werden zitiert) – erstaunlich, bedenkt man die Informationsbedingungen seiner Zeit.
In einem der Briefe renommiert eine Dame (allerdings aus der Residenz) mit dem Bezug mehrerer Zeitungen und der Mitgliedschaft in drei Lesegesellschaften. Das gab es also schon damals. Doch auch in einem Landstädtchen wie Böblingen (mit ca. 2.000 meist landwirtschaftlich beschäftigten Einwohnern) und in Bernritters Kreisen?
In einer späteren Schrift begegnet er einer literarisch echauffierten Frau Stadtschreiberin, „deren literarische Liebhaberei den Herrn Gemahl wohl etwas Ansehnliches kostet“. In ihrem literarischen Salon wimmelt es „von Erzpoeten, Malern und Musikern [...] Ist sie über ihren Versen in Begeisterung geraten, läuft der Herr Stadtschreiber wie ein angeschossener Eber hausaus,hausein.“

Vieles in diesen Briefen gehört einer versunkenen Welt an, von der sie Kunde geben

Zwischendurch aber reibt man sich verwundert die Augen:
Befinden wir uns hier tatsächlich im Jahre 1786? Ist das nicht wie aus unseren Tagen (in wenig gewandelter Form) entnommen? Da schreibt ein eben niedergelassener Apotheker an den Arzt am Ort und schlägt ihm vor: „Wenn Sie nur recht fleißig Arzneien verschreiben, so will ich Sie an meinem Umsatz beteiligen“ – ein „Geschäft“, das sogleich zustande kommt.
Ein buntes Bild, das sich da entfaltet und das uns auch einen Einblick in das Böblingen von vor fast 250 Jahren gibt. Bernritter ist es nach 24 Jahren gelungen, als Rentkammerrat in die Residenz berufen zu werden – in die „Ministerialbürokratie“ würden wir heute sagen. Dort ist er mit dem Status eines Charge d'affaires (diplomatischer Vertreter) von Herzog Friedrich in einer schwierigen Mission nach Wien entsandt worden. Vom langjährigen untergeordneten Status in der Böblinger Oberamtsschreiberei aus war dies ein ungeahnter Höhepunkt seiner Laufbahn.
Kurz darauf ist Friedrich Bernritter 1803 in Stuttgart gestorben.

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