Die wohl älteste Familienchronik Böblingens

Die kleine Chronik ist nur 10x15 Zentimeter groß und hat sieben beschriebene Seiten. Fotos: Stadtarchiv Böblingen
Die kleine Chronik ist nur10x15 Zentimeter groß undhat sieben beschriebeneSeiten.Fotos: Stadtarchiv Böblingen

Manchmal passieren wundervolle Dinge, die zunächst ganz unscheinbar beginnen. Mit einem Telefonanruf im Stadtarchiv an einem eher regnerisch-kalten Wintertag zum Beispiel.
Eine betagte Böblinger Bürgerin kündigt an, sie habe in ihrem Familienbesitz alte Unterlagen, die sie gerne dem Böblinger Stadtarchiv übergeben würde. Ja, danke, sehr gerne nehmen wir uns dem an. Ein Termin wird vereinbart, die Unterlagen zur Sichtung übergeben, der Vorgang erfasst. So weit, so erfreulich, – so weit, so gewöhnlich.

Und dann geschieht beim Öffnen der Tasche von Frau Kümmerling, geborene Rivinius, das Außergewöhnliche: Zum Vorschein kommen wahrhafte historische Schätze für Böblingen. Wenn es sich bewahrheitet, was die erste Aufarbeitung zeigt, dann handelt es sich zum einen um historische Rechtsbriefe aus der alten Oberamtsstadt Böblingen und zum anderen um zwei ganz besondere Heftlein aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Eines davon ist die älteste Familienchronik aus Böblingen, die künftig allen Böblinger Geschichtsinteressierten zugängig ist. Eine Sternstunde für die Stadtgeschichte. Wichtig zu wissen ist, dass in Böblingen, wie in viele anderen Städten leider auch, ein Großteil der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Überlieferung im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.

Historische Schätze für die Stadt

Die vier verschiedenen Schriftstücke befinden sich nun also im Stadtarchiv. Allesamt in altertümlichen Kurrent-Schriften verfasst, über die Zeit vergilbt, aber ansonsten in einem verhältnismäßig guten Zustand. Das ist nicht selbstverständlich.

Rechtsbriefe aus dem 17. Jahrhundert

Da sind zum einen die zwei großen, hinter Glas gerahmten Rechtsbriefe aus der ehemaligen Amtsstadt Böblingen. Sie stammen aus den Jahren 1671 und 1672 und betreffen Amts-Schriftwechsel zwischen Holzgerlinger Bürgern und dem Böblinger Vogt Ludwig Albrecht. Beide Briefe hatte Frau Kümmerling in den 1970er-Jahren beim Umzug des elterlichen Ladengeschäfts im Papiercontainer entdeckt, in Sicherheit gebracht und als Zierde des häuslichen Arbeitszimmers gerahmt.

Älteste Böblinger Familienchronik beginnt 1757

Die beiden Heftchen sind hingegen kein frühneuzeitliches Verwaltungsschriftgut. Es sind persönliche Schriftstücke, die vom Lebensalltag vor über 250 Jahren zeugen. Die besagte älteste Böblinger Familienchronik beginnt vielversprechend:

„Anno 1757 den 22. November hab ich mich mit Elisabetha Catherina Scheÿinger all hir in Böblingen und vor dem Angesicht Christen Kirche cupiliren laßen.“

Das heißt so viel wie: „Im Jahr 1757, am 22. November, habe ich hier, in der Böblinger Stadtkirche, Elisabetha Catherina Scheyhinger geheiratet.“ Die Notiz stammt aus der Feder eines jungen Mannes von 23 Jahren, der sich selbst als „Johannis Buler“ (Becker) zu erkennen gibt. Dankbar notiert er in seinem Heftchen, wie die kleine Familie immer weiterwuchs. Er schreibt aber auch davon, wie manche seiner Kinder schon früh wieder zu Grabe getragen wurden. Seine Frau Elisabeth Catherina brachte acht Kinder zur Welt, damals nicht unüblich. Weder die erste Tochter, Maria Barbara, noch der zweite Sohn, Georg Dietrich, erlebten ihren dritten Geburtstag. Die fünfte Tochter, Margaretha, verstarb als Jugendliche mit genau 13 Jahren, sechs Monaten und 22 Tagen, wie ihr Vater zutiefst getroffen festhielt.

Das übergebene Ensemble an lokaler Geschichte.
Das übergebene Ensemble an lokaler Geschichte.

Historische Einordnung

Böblingen war zu jener Zeit zwar Oberamtsstadt in Württemberg und damit eines der Verwaltungszentren im Herzogtum. Dennoch lebte ein Großteil der hiesigen Bevölkerung, die damals um die 1.400 Menschen zählte, in einfachen, oftmals prekären Verhältnissen. Vater Johannes war Bauer im damals noch durch und durch agrarisch geprägten Böblingen – so wie sein Vater, Großvater, Urgroßvater und Ururgroßvater bereits vor ihm. Die Familientradition von Mutter Elisabeth wiederum war geprägt durch das Bäckerhandwerk, mit dem ihre Vorväter ihren Lebensunterhalt seit ihrem Zuzug aus Darmsheim im späten 17. Jahrhundert bestritten. Eine solche Kombination von Landwirtschaft bzw. kleiner Tierhaltung und Handwerk sicherte Familien wie den Becker-Scheyhingers ein Auskommen, aber sicher kein leichtes Leben. Im Jahr 1800, mit 64 Jahren, beendete Johannes Becker seine Familienchronik. Er hatte sie in dem kleinen Heftchen über 40 Jahre immer wieder fortgeführt. Die Chronik lässt die Herzen von Ahnenforschenden höherschlagen. Geburts- und Sterbedaten, die damals noch vom Pfarrer in Kirchenbüchern festgehalten wurden, finden sich hier bestätigt und zu einer kleinen Familiengeschichte vereint.

Mehr noch, die kleine Chronik lässt uns eintauchen in die Gedankenwelt dieses Böblinger Bürgers vor über 250 Jahren. Sein Leben war geprägt vom christlichen (evangelischen) Glauben, in tiefster Dankbarkeit an „den Allmächtigen“ nahm er seine neugeborenen Kinder als Geschenke Gottes wahr. Die religiösen Feiertage strukturierten seinen Jahresablauf. Es war Karfreitag, als sein Sohn verstarb.

„Ego-Zeugnisse“ geben Einblicke in Alltag und Gedankenwelt

Und dennoch sehen wir an seiner Chronik, dass der Volksglauben der Zeit weitere Bezugspunkte hatte und zum religiösen Weltverständnis hinzukam, wie es von den Kanzeln gepredigt wurde. Orientierung im Jahresverlauf fand unser Chronist auch in den Tierkreiszeichen. Er notierte sie zusätzlich zu den Geburtstagen seiner Kinder: Tochter Maria Barbara war etwa ihres Zeichens Jungfrau, Georg Dietrich Wassermann, Maria Barbara Schütze und Margaretha Stier. Die Tierkreis- bzw. Sternzeichen zog man heran, um das Schicksal aus den Gestirnen vorherzusehen. Horoskope und andere Schriften mit (laien-) astrologischen Inhalten waren im 18. Jahrhundert weit verbreitet und schlossen sich für die Menschen nicht unbedingt mit ihrem christlichen Glauben aus. In einer Gesellschaft, die eine Vielzahl von Bauernweisheiten kannte und ihre Umwelt auf Vorzeichen und Omen für Kommendes beobachtete, verbanden sich zuweilen Glaube und Aberglaube.

Die Familienchronik ermöglicht einen subjektiven Einblick in das Leben von gewöhnlichen Menschen in ihrer Zeit. Historiker*innen sprechen hierbei gerne von „Ego-Zeugnissen“. Dass dieses Heft sich bis heute erhalten hat, ist eine wahre Besonderheit!

„Wanderbuch“ aus 19. Jahrhundert

Auch ein sogenanntes „Wanderbuch“ eines Waldenbucher Gesellen aus dem frühen 19. Jahrhundert erzählt eine ganz eigene Geschichte. Die verschiedenen Etappen, auf denen ein junger Mann sein Handwerk erlernte, hielt er in diesem Büchlein als Nachweis fest.

Das Wanderbuch unternahm im letzten Jahrhundert eine weitere Reise, dieses Mal sogar über den Atlantischen Ozean. Es gelangte nach dem Zweiten Weltkrieg mit ausgewanderten Vorfahren der Familie Rivinius bis nach Philadelphia in die USA, von wo aus es die Schwester der Schenkerin vergangenen Spätherbst wieder auf den „Alten Kontinent“ zurückbrachte – mit dem Ziel, eine passende Aufbewahrungsstätte zu finden.

Im Stadtarchiv Böblingen können nun alle Interessierten an der Stadtgeschichte diese beeindruckenden Zeugnisse der Geschichte bestaunen. Das Waldenbucher Wanderbuch wird selbstverständlich ins dortige Stadtarchiv überführt.

Weitere Informationen

Anfahrt

Das Stadtarchiv ist im Neuen Rathaus am Marktplatz untergebracht. Zu den Verkehrsanbindungen über den ÖPNV bzw. privat siehe hier.