Szenen aus der Reformationszeit in Böblingen

Im aktuellen Einblick in die Stadtgeschichte berichtet Stadtarchivar Dr. Christoph Florian von den Nöten eines protestantischen Pfarrers in Böblingen in der Reformationszeit.

In diesem Jahr wird das 500-jährige Jubiläum der Veröffentlichung der 95 Thesen Martin Luthers gegen den Ablasshandel gefeiert. Dieses Datum gilt als Beginn der Kirchenreformation und damit auch als Geburtstag der evangelischen Konfession in Deutschland. Da liegt doch die Frage nahe, unter welchen Umständen und wann genau in Böblingen die Reformation eingeführt wurde.

Im Jahr 1519 wurde Herzig Ulrich von Württemberg aufgrund verschiedener Rechtsbrüche, aber vor allem durch den Angriff auf die Reichsstadt Reutlingens, durch den Schwäbischen Bund, einer politischen Vereinigung schwäbischer Reichsstände, vertrieben. Er musste sich daraufhin lange im Exil aufhalten.

Bild von einem Schlussstein mit der Lutherrose in der Stadtkirche
Schlussstein mit der Lutherrose in der Stadtkirche (mit freundlicher Genehmigung der Evangelischen Kirchenpflege Böblingen)

Württemberg wird österreichisch

Kurze Zeit nach der Vertreibung des Herzogs ging das Herzogtum an den streng katholischen Erzherzog Ferdinand von Österreich über. Dieser war ein Bruder Kaiser Karls V. Jegliche reformatorische Bestrebung wurde damals unnachgiebig unterdrückt, weshalb die Reformation in Böblingen länger dauerte.

Erst nach der Rückeroberung seines Landes durch hessische Truppen und der Rückkehr aus dem Exil 1534 ordnete Herzog Ulrich die kirchliche Neuordnung in Württemberg und somit in Böblingen an. Jetzt erst wurde also die Reformation eingeführt.

Betrachtet man lediglich die Jahresdaten, dann scheint der reformatorische Prozess zwingend und mühelos gewesen zu sein. Bei einem Blick auf die lokale Ebene wird jedoch erkennbar, mit wie vielen Mühen und Auseinandersetzungen dieser Vorgang verbunden war. Anhand eines Konflikts zwischen dem evangelischen Pfarrer und einem Amtsschreiber in Böblingen sollen diese Probleme verdeutlicht werden. Die Ausführungen basieren zu einem größeren Teil auf einem von dem Kirchenhistoriker Gustav Bossert 1936 in den Blättern zur Württembergischen Kirchengeschichte veröffentlichten Aufsatz.

Der eine Kontrahent war Johann Otmar Epplin, genannt Mayländer. Der um 1510 in Ulm geborene Mayländer hatte als evangelischer Pfarrer zuvor schon an einigen anderen Orten gewirkt, zuletzt in Oberesslingen. 1542 war er Nachfolger des ersten reformierten Böblinger Pfarrers Hans Wern geworden. Formell wurde Mayländer nicht als Pfarrer, sondern nur als ein rangniedrigerer „Prädikant“ bezeichnet, doch hat er die ganze Seelsorgearbeit geleistet. Er war tüchtig und genoss hohes Ansehen.

Sein Kontrahent war Amtsschreiber Caspar Beer, ein hoher Beamter. Der gebürtige Bönnigheimer hatte in Tübingen studiert, später war er dann Amtsschreiber im Amt Böblingen geworden. In dieser Funktion nahm er in der Verwaltung des Amtes Böblingen eine wichtige Position ein.

Suppe und Wein

Der erste Vorfall ereignete sich Ende 1544. Da hatte der Böblinger Bürgermeister Bastian Frech den Schultheißen und das Gericht zu Suppe und Wein eingeladen. Der Bürgermeister war damals eine Art Finanzbürgermeister, der Schultheiß ebenfalls ein hoher städtischer Beamter. Das Gericht war damals oberstes Verwaltungsorgan und Stadtgericht zugleich, gebildet wurde es durch den Schultheißen und 12 Richter.

Es war um etwa 8.00 Uhr Abend und es ging hoch her. Da fragte der ebenfalls anwesende Caspar Beer den Bürgermeister: „Altes bemischlin, – das hieß wohl alter Schmusekater – dürfen wir in deinem Haus fröhlich sein?“ und ließ dann seinen Lieblingsfluch, den er immer wieder variierte, vernehmen: „Zu Teufel, leck uns all [...]“ Auf der Feier soll getanzt und gesprungen worden sein, man habe ans Fenster geschlagen und ein Glas auf die Gasse geworfen und der freche Amtsschreiber Beer soll zur Entrüstung der Nachbarschaft aus dem Fenster gerufen haben: „Zu, Pfaff, leck uns all […]!“

Die Sache wurde offiziell. Der Geistliche Mayländer (???) hatte deswegen wohl seine Vorgesetzten informiert, war er doch für die Wahrung des allgemeinen Anstands und der Sitten zuständig. Dazu musste er den letzteren Ausruf Beers als Angriff gegen seine Autorität betrachtet haben. Es kam wohl zu offiziellen Befragungen. Das Gericht bzw. die Richter nämlich – wir erinnern uns, sie hatten mitgefeiert – stellten die Beschwerden des Prädikanten Mayländer über die Exzesse in Abrede. Ja die Richter behaupteten sogar im Gegenteil, dass das ominöse Glas nicht aus des Bürgermeisters, sondern zu Mitternacht aus Mayländers Wohnung auf die Gasse geflogen sei. Am Ende gab es einen Vergleich.

Bild: Das Aussehen Stadtkirche um die Mitte des 17. Jahrhunderts
Die Stadtkirche um die Mitte des 17. Jahrhunderts

Eine weitere Begebenheit ging dann für Mayländer nicht so gut aus. Es war am 23. November 1545. Beer hielt sich im Haus des Vogts Lienhart Breitschwert am Marktplatz auf. Es war 9.00 Uhr Abends und der Vogt wollte schlafen gehen. Da erklang auf der Straße eine Geige. Mayländer begleitete mit seiner Frau die Tochter des Wirts Jörg Gerlach von einer Hochzeit in der Vorstadt nach Hause, am Rathaus vorbei. Der übermütige Amtsschreiber Beer rief Veit, dem Sohne des Vogtes, zu, er solle mit auf die Gasse und schrie nach seiner Angewohnheit aus dem Fenster: „Komm, Teufel, und leck uns all […]“ Der Geistliche Mayländer rief – für die Herrschaften oben nicht hörbar – zurück: „Leck du mich!“Ärgerlich sagte der Vogt, der ja eigentlich zu Bett gehen wollte: „Hat ihn der Teufel hergetragen? Amtsschreiber Beer, ihr sollt nicht aus meinem Fenster schreien“. Mayländer berichtete dann am 3. Dezember nach Stuttgart an die Zentralverwaltung. Der vorlaute Amtsschreiber Beer musste sich Mitte Dezember dort vor seinen Vorgesetzten verantworten. Beer verwahrte sich wegen dieses „Fuchses […]“, wie er Mayländer bezeichnete. Die württembergische Regierung sorgte dann auf ihre Weise für Ruhe in Böblingen. Der Amtsschreiber wurde nach Stuttgart beordert und schon 1546 zum Vogtsamtsverweser von Stuttgart bestellt. Er führte damit die Amtsgeschäfte in dem wichtigsten württembergischen Amt. Dies war ein beachtlicher Karrieresprung. Später wurde er in das oberste Regierungsgremium, dem „Oberrat“ berufen, dem er bis zu seinem Tod 1561 angehörte.

Karriereknick

Die Karriere Mayländers jedoch erlebte keinen Sprung, sondern eher einen Knick. Auch er wurde aus Böblingen abberufen, bekam jedoch keine neue bessergestellte Position. Im Gegenteil er schied – wohl zwangsweise – aus dem württembergischen Dienst aus und wurde Pfarrer im damals „ausländischen“ Esslingen. Letztendlich war also Beer der wichtigere Mann gewesen. Dies zeigt doch die Machtverhältnisse zwischen den Ortsgeistlichen und der herrschaftlichen Amtsverwaltung.

Der Unmut der württembergischen Vorgesetzten hat sich dann wenig später wohl gelegt und Mayländer wurde 1548 Pfarrer in Nürtingen, danach in Urach (1552). Dort wurde er sogar Dekan, also Vorsteher des Kirchenbezirks. Doch hier geriet er in Streit mit dem Diakon Johann Pfaffenzeller, einem ihm unterstellten evangelischen Geistlichen. Die Folgen kommen dann irgendwie vertraut vor. Beide Kontrahenten wurden nämlich 1561 aus ihren Positionen entlassen. Mayländer verließ daraufhin das Herzogtum und verstarb 1573 als Pfarrer in Speyer.

Eine – zuweilen selbstzerstörerische – Streitlust scheint ein hervorstechender Wesenszug Mayländers gewesen zu sein. Doch war die Bereitschaft für die eigenen Ansichten und Ideale Konflikte mit ranghöheren Personen zu riskieren, auch wenn das berufliche Nachteile mit sich bringen konnte, in diesen unsicheren und gefährlichen Zeiten ein Charaktermerkmal vieler reformatorischer Geistlicher. In dieser Hinsicht kann der streitbare Böblinger Pfarrer aus der Reformationszeit auch in heutigen Zeiten durchaus noch als ein Vorbild dienen.

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