Revolution in Böblingen: Der 9. November 1918

In dieser Ausgabe des Einblicks in die Stadtgeschichte befasst sich Stadtarchivar Dr. Christoph Florian mit den Ereignissen der Novemberrevolution in Böblingen vor hundert Jahren.

Am 9. November 1918 um 14.00 Uhr rief in Berlin vom Balkon des Reichstages aus der SPD-Politiker und Reichstagsabgeordnete Philipp Scheidemann die Deutsche Republik aus. Damit hatte das republikanische Prinzip gesiegt. Jetzt war nicht mehr der Deutsche Kaiser oberster Souverän, sondern das Volk in seiner Gesamtheit. Auch Böblingen hatte seinen Anteil an der Novemberrevolution.

Um die lokalen Ereignisse verstehen zu können, ist es notwendig, im Geschichtsbuch einige Seiten bis zum Jahr 1914 zurückzublättern. Am Beginn des Ersten Weltkriegs hatte neben vieler Besorgnis auch Euphorie geherrscht. Doch letztere war schnell dahingeschmolzen. Die steigende Anzahl von Kriegstoten, am Ende waren es über 200, und die Lebensmittelknappheit hatten die Stimmung eingetrübt. Im Herbst 1918 zeichnete sich dann immer deutlicher die militärische Niederlage Deutschlands ab.

Szene aus der Flugzeugwerft – zukünftige Revolutionärinnen und Revolutionäre bei der Arbeit

Revolutionäres Potential

Die Stimmung war verheerend, die Lage hoffnungslos. Böblingen glitt immer stärker in eine revolutionäre Situation hinein. Die bisherige monarchische Herrschaftsform wurde in Frage gestellt. Hätte es sich bei Böblingen nur um eine kleine ganz normale Amtsstadt gehandelt, dann wäre die Revolution unspektakulär verlaufen. Doch es gab zwei Einrichtungen mit großem revolutionären Potential. Die eine Einrichtung war der seit 1915 aufgebaute und mit einer Ausbildungsabteilung (Fliegerersatzabteilung 10, kurz FEA 10) belegte Militärflughafen. Der FEA 10 gehörten auch Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeiter an, welche vor allem für die Instandsetzung der Maschinen (Flugzeugwerft) wichtig waren. Im November zählte das Personal rund 4.000 Personen. Kommandeur war seit 1917 Rittmeister Egon Julius Reichsgraf von Beroldingen (1885-1933). Die andere Einrichtung war das seit 1916 angelegte Werk der Daimler-Motoren-Gesellschaft in Sindelfingen, das zunächst als Flugzeugfabrik betrieben wurde. Seine Belegschaft war von 100 Personen im Oktober 1916 auf rund 6.000 Personen, davon 1.100 weibliche Beschäftigte, im November 1918 gestiegen. Seit März 1918 stand es unter militärischer Kontrolle. Zum Vergleich: 1910 hatten Böblingen 6019 und Sindelfingen 4589 Einwohner.

In beiden Einrichtungen gärte die Stimmung. Man wollte endlich Frieden, bessere Ernährung und bessere Behandlung. Die Daimlerarbeiter beklagten sich über zu schlechtes und nicht ausreichendes Kantinenessen. Es hieß, dass „des öfteren Ersatzmittel übergeben“ wurden, denen „die Bezeichnung Lebensmittel nicht zugesprochen werden kann“. Bei der FEA 10 herrschte nach Meinung der Beschäftigten „der gemeinste Militarismus, den eine Regierung von Gottesgnaden jemals hervor bringen konnte.“ Sie müssten „unter der Knute des Werftoffiziers als eine Art Sträfling arbeiten“. Es war ihnen z. B. verboten, zum Sonntagsurlaub die Bahn zu benutzen.

Unter dem Eindruck des Matrosenaufstands in Kiel (seit 3. November), von dem ausgehend sich die Revolution in ganz Deutschland ausbreitete, platzte auch in Böblingen der Knoten. Am Abend des 8. November trafen sich am Abend die „etliche“ Arbeiter des Daimlerwerks, welche dienstverpflichtet waren, und Beschäftigten der Flugzeugwerft, besprachen das weitere Vorgehen und formulierten Forderungen.

Am Samstag, 9. November, war es soweit. Um 9.00 Uhr legten die Arbeiter der Flugzeugwerft ihre Arbeit nieder, versammelten sich und verkündeten vor dem herbeizitierten Abteilungsleiter ihre Forderung: Bessere Kost, Lohnerhöhung u.a. auch die Entlassung des „unbeliebten“ Werftoffiziers Zahn wurden gefordert.

Mit der roten Fahne voran

Zur gleichen Zeit legten auch die Daimlerarbeiter ihre Arbeit nieder und formierten dann einen Demonstrationszug in Richtung Böblingen, der auch Angehörige der FEA 10 aufnahm. Dann bewegte sich der Zug, die rote Fahne voran, am Bahnhof vorbei zum Postplatz. Am Postplatz hielt der Anführer – leider wird in den Unterlagen nicht sein Name genannt – eine Ansprache, worin er die erlangte Freiheit pries, auch zur Ruhe mahnte und besonders die Jugend vor Ausschreitungen ernstlich warnte. Die Beteiligten waren nämlich größtenteils jüngeren Alters, darunter viele Arbeiterinnen. Die Mahnungen waren angebracht, redeten doch gerade die Jüngsten vom Zerstören und Fenstereinwerfen. Doch es blieb ruhig. Noch Abends wird aus Stuttgart bekannt, dass ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet und die Republik ausgerufen worden sei. Das war also der denkwürdige 9. November in Böblingen.

Während der Sonntag ruhig blieb, fingen am Montag, 11. November, die rebellischen Soldaten der FEA 10 an, sich eine Struktur zu geben und wählten einen vierzehnköpfigen Soldatenrat. Die Arbeiter- und Soldatenräte waren gewissermaßen eine Parallelstruktur zu den vorhandenen Behörden, Parlamenten und sonstigen Vertretungen. Sie sollten die Interessen der Bevölkerung direkt vertreten. Organisiert waren sie auf der Grundlage von Basiseinheiten wie Betrieb, Bewohner eines Bezirks, Soldaten einer Kaserne. Dieser so geschaffene Soldatenrat trat am darauffolgenden Dienstag zusammen und wählte seinerseits einen Herrn Kuhn zu seinem Vorsitzenden. Sofort wurden Maßnahmen zur Sicherung der allgemeinen Ordnung getroffen. Für Böblingen wurden die militärische Besetzung von Oberamt (Vorgänger Landratsamt), Rathaus, Post- und Telegrafenamt, Gewerbebank, Gaswerk und den Bahnhof angeordnet. Das Post- und Telegrafenamt wurde sogar mit Maschinengewehren gesichert. Ferner wurden gelegentliche Straßenpatrouillen angeordnet.

Vermutlich am gleichen Tag wurden die Offiziere der FEA 10 zur Rechtfertigung und Wiederbelassung im Dienst vor den Arbeiter- und Soldatenrat gerufen. Der unbeliebte Leutnant Zahn, der Werftoffizier, wurde wohl bei diesem Anlass entlassen und verließ Böblingen zudem wurde ein Großteil der Angehörigen der FEA 10 entlassen und kehrte in das Zivilleben zurück. Ein Teil der Mannschaften blieb jedoch. Neben dem Arbeiter- und Soldatenrat bestand die militärische Hierarchie weiter.

Übergangszeit

Ein halbes Jahr herrschte dann in Böblingen eine Übergangszeit. Zunächst wurden verschiedene Räte gewählt, darunter der Arbeiter- und Bauernrat für die Stadt Böblingen im Dezember 1918. Die Räte engagierten sich vor allem im sozialen Bereich, verloren jedoch rasch an Bedeutung und wurden später aufgelöst. Der Versuch in Deutschland ein auf Räte basierendes Regierungssystem (Räterepublik) einzuführen scheiterte, z. T. wurden diese Bestrebungen blutig niedergeschlagen. In Böblingen blieb es allerdings ruhig. Die Wahlen zur Nationalversammlung (Reichstag) im Januar 1919 und zum Gemeinderat (25. Mai 1919), bei der die Anhänger des parlamentarischen Systems gewannen, markierten dann das Ende des revolutionären Zeitabschnitts. Böblingen war in der parlamentarischen Republik angekommen.

Im Juni 1919 wurde dann auch die Restformation der FEA 10 aufgehoben, das war das Ende des Militärflughafens und zugleich des Soldatenrats. Das Sindelfinger Daimlerwerk verlor innerhalb kürzester Zeit Dreiviertel seiner Belegschaft und zählte am 1. Oktober 1919 rund 1400 Beschäftigte. Zugleich kam der Betrieb zur Ruhe und wurde 1919 auf Karosseriebau umgestellt, während der Umstellung wurden auch Möbel-, Wohn- und Schlafzimmereinrichtungen hergestellt.

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